Reflexionen über kleine, dünne Zackenbretter

Lukas Busch

Schlüssel kommen und Schlüssel gehen. Sie werden gegossen, gestanzt, verkauft, erhalten Wert und eine Bedeutung. Es gibt sie in klein, groß, mittel groß, mittel klein, dick, dünn, mittel dünn und bunt. Trotz Ähnlichkeiten passen sie nur in ein Schloss. Schlüssel-Schloss-Prinzip. Sie werden verliehen und zurückgegeben, verloren und gefunden, öffnen und schließen, erhalten Geschichten… und behalten diese.

 



Ich erhalte einen Schlüssel. Er öffnet ein Schließfach. Mein Schließfach. Er schließt es auch wieder. Aber ohne Fach kein Schloss, ohne Schloss kein offenes Fach. Wo ist Nummer sechs? Ich laufe durch den Gang, Etage für Etage, schaue erst links dann rechts. Überall sehe ich Spinde. Ansammlungen von Fächern. Hinter jedem Fach verbirgt sich ein Schüler, verworren in Gemeinschaften, Kursen, Freunde, Familien; und doch ein einzelner Schüler. Jeder hat seinen eigenen Schlüssel, sein eigenes Fach. Und doch sind sie gebündelt, Fächer gestapelt. Wege verlaufen parallel, kreuzen sich, laufen zusammen und wieder auseinander. Schüler finden sich, werden Freunde, besitzen nebeneinanderliegende Schließfächer.

Da!!! Hinter einer Ecke sehe ich Nummer sechs!!! Zweiter Schrank, oberstes Fach. Ich öffne es. Überreste alter Schulhefte und Zettel erinnern an längst vergessene Schüler. An eine Vergangenheit in der Nummer sechs jemand anderem gehörte. „Sicher kein ordentlicher Mensch“, denke ich und entsorge die Sachen, die entweder schon vermodert sind oder lediglich unleserlich beschrieben wurden, umweltfreundlich oben auf dem Spind, wo sie weitere Jahre überdauern werden.  Jetzt beginnt meine Geschichte!!! Bücher werden gestapelt, Tassen verstaut, Essen für eine verschwindend geringe Zeit zwischengelagert, auf das baldige Vertilgen wartend. Einige Fächer sind ordentlich, andere ein Chaos. Individuell. Jeder gestaltet sein eigenes Leben. Wie gestalte ich das Fach hinter meinem Schlüssel?

Die Zeit vergeht. Mein Schlüssel erlebt neue Geschichten, erzählt nichts über die seiner Vorbesitzer. Er lernt das Innere meiner Hosentaschen sehr genau kennen und verbringt die drei Jahre Abitur nun Seite an Seite mit einem Lego-Männchen. Das Lego-Männchen hat auch schon einige Geschichten auf Lager, verrät sie aber nicht an den Schlüssel, sondern sammelt neue. Tja, da hat der Schlüssel wohl Pech!!! Kaum versieht man sich, sind die drei Jahre auch schon vorbei. „abgehen wollen“ heißt es nun. Oder zu Deutsch: Abitur. Eine neue Zukunft. Fächer werden geleert, Bücher zurückgegeben, Tassen weggepackt. Verworfene Hefte, Sticker und Zettel in den Fächern werden an unsere Geschichten erinnern. Neue Schüler beginnen neue Geschichten, gehen durch den gleichen Lebensabschnitt. Haben dieselben Schlüssel. Meinen Schlüssel. Machen eigene Geschichten. Füllen die Fächer ganz neu. Ich sehe den Schlüssel und denke an all die Geschichten der Vergangenheit. Fächer gehen, Freunde bleiben.

Nun werde ich einen neuen Schlüssel bekommen. Ein Neuer wird das Lego-Männchen begleiten. Welches Fach wird er öffnen? Und wie lange? Was war der Inhalt meiner Fächer? Eigenarten bleiben. Unordentliche Menschen haben immer unordentliche Fächer. Was habe ich gelernt? Was bleibt?

Wenn du das nächste Mal zu jemandem sagst: „Verschwinde wie die Wurst im Spinde!“, dann denk an mein Schließfach, deinen Schlüssel und überleg dir wie du dein Leben gestalten willst, was der Inhalt deines Schließfachs sein soll. Nimm dir Zeit, weil Wege viel zu schnell auseinandergehen.